Bewegungen wie MeToo und Black Lives Matter, Entwicklungen hin zu einer geschlechtergerechten Sprache sind undenkbar ohne einer historisch gewachsenen individuellen und gesellschaftlichen Sensibilität gegenüber Diskriminierung und Ungleichheit. Gleichzeitig wird es jedoch zusehends schwieriger, Grenzen der Zumutbarkeit zu definieren und zu unterscheiden, wo zum Beispiel Berührung oder Sprachspiel noch Teil des erotischen Spiels oder Belästigung ist oder welches Maß an geschlechtergerechter Sprache angemessen und notwendig ist.
Konzepte der Zumutbarkeit und der Verletzlichkeit stehen sich heute unversöhnlicher als noch vor ein paar Jahren gegenüber, verhärten sich an den Rändern die Positionen, werden Diskurse aggressiver, fällt der Dialog um Angemessenheit und Zumutbarkeit zusehends schwerer. Mit „Sensibel“ mischt sich die Philosophin Svenja Flaßpöhler in die Diskussion ein und hat ein Buch geschrieben, das genau zur richtigen Zeit kommt.
Neben dem Bedeutungsgewinn von Sensibilität sieht Flaßpöhler am anderen Ende des gesellschaftlichen Diskurses und unter dem Deckmantel des Resilienzbegriffs Strategien der Abgrenzung und Abschottung an Bedeutung gewinnen. Stimmen, die sich der Forderung nach sensiblem Sprachgebrauch, nach Rücksichtnahme auf Befindlichkeiten diskriminierter Menschen verwehren und ihrerseits auf die Nicht-Zumutbarkeit veränderten Sprechens und Verhaltens pochen, werden mehr und lauter.
Mit ihren Überlegungen eröffnet Flaßpöhler nicht nur ein tieferes Verständnis aktueller Diskurse, sondern entwickelt auch einen Weg aus der Polarität, der die Handlungs- und Sprachmöglichkeiten wieder weitet. Mit Sicherheit eröffnet das Buch auch neue Perspektiven in der Diskussion um einen angemessenen Umgang mit der pandemischen Lage.
Svenja Flaßpöhler (2021): Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenze des Zumutbaren. Stuttgart (Klett-Cotta Verlag)