Die Gleichstellungsbeauftragten in den Berliner Bezirken und bundesweit in den Kommunen sind in die unmittelbare Flüchtlingshilfe vor Ort eingebunden und machen selbst ganz konkrete Erfahrungen mit dieser Thematik.
Anfang September 2015 trafen sie sich auf der Bundeskonferenz der kommunalen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, um sich zum Thema „Frauen auf der Flucht“ auszutauschen und einen Maßnahmenkatalog zu erarbeiten, dessen umgehende Umsetzung sie nach wie vor fordern. So sahen und sehen sie dringenden Bedarf an:
- psychotherapeutischen Hilfsangeboten für Frauen und Kinder, die durch sexuelle Gewalt traumatisiert sind,
- Schulungen für Betreuungspersonen in den Erstaufnahmestellen und Unterkünften,
- weiblichen Ansprechpartnerinnen und Dolmetscherinnen,
- abschließbaren und geschlechtergetrennten Räumen und Sanitäranlagen,
- Wohnraum für allein reisende Frauen mit Kindern sowie
- einer niederschwelligen gesundheitlichen Versorgung.
Mitte September 2015 sprachen wir auch zum ersten Mal mit Carolina Böhm. Sie ist Gleichstellungsbeauftragte des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin. Damals berichtete sie uns, dass es in ihrer konkreten Arbeit vor allem darum ginge, einen Überblick über die Zustände in den Flüchtlingseinrichtungen zu bekommen und sicherzustellen, dass z.B. nach Geschlechtern getrennte Wasch- und Schlafräume oder geschlechtsspezifische Rückzugsräume vorhanden seien. Außerdem könne sie ganz konkrete Hilfe anbieten und an Fachleute weitervermitteln, etwa wenn es zu sexuellen Übergriffen oder zu häuslicher Gewalt in den teilweise sehr vollen Unterkünften komme. Uns gegenüber formulierte Frau Böhm es damals so: „Der physische und psychische Schutz von Frauen und Mädchen, die bei uns ankommen, ist zivilgesellschaftliche Notwendigkeit, denn Frauenrechte sind Menschenrechte und keine Luxusfrage.“
Nach den Vorfällen der Silvesternacht in Köln haben wir ein zweites Mal mit Frau Böhm Kontakt aufgenommen und das Gespräch fortgeführt.
Liebe Frau Böhm, nachdem wir den Fokus unseres ersten Gesprächs auf die Herausforderungen gelegt hatten, die sich bei der Ankunft von Flüchtlingen stellen, möchten wir heute den Schwerpunkt gern auf die Gleichstellungspolitik lenken. Muss sich Gleichstellungspolitik angesichts des Zustroms so vieler Menschen, die einen anderen kulturellen und religiösen Hintergrund haben, oder angesichts der Gewaltexzesse gegenüber Frauen verändern?
Es ist ein grundlegendes Prinzip unserer europäischen Wertegemeinschaft, dass wir niemanden auf Grund von Geschlecht, sexueller oder religiöser Orientierung oder aber Herkunft diskriminieren. Dieser Grundsatz spielt in der weiter heterogenisierten Gesellschaft eine immer größere Rolle, daher muss die Vermittlung dieser Haltung höchste Priorität erhalten. Die Vorkommnisse von Köln unterstreichen diese Notwendigkeit weiter.
Da aber die Gleichstellungspolitik bislang noch nicht alle selbst gesetzten Ziele erreicht hat, besteht aus meiner Sicht keine Notwendigkeit zu Veränderungen, wir werden weiter arbeiten und tun dies gemeinsam mit allen Menschen, die zu uns kommen und die wir hier willkommen heißen. Dies gehört für mich zur Auseinandersetzung, die Teil der Willkommenskultur ist.
Welche Herausforderungen sehen Sie zum Thema Gender oder Gleichstellung in der Frage der Integration von Flüchtlingen in den Kommunen?
Die Erfahrungen vor Ort haben uns hoffentlich gelehrt, die Fehler der ersten Arbeitsmarktintegration zu vermeiden. Wir sollten nicht ein zweites Mal die Familienmütter, die hier ankommenden Frauen vergessen. Sie sind entscheidend für die Sozialisation der Kinder, daher müssen genügend Deutschkurse für alle bereit stehen. Da Bildung ja bekanntlich wesentliche Voraussetzung für Integration ist, müssen unserer Erfahrung nach Bildungsbarrieren für Frauen proaktiv abgebaut werden.
Ich halte es außerdem für essentiell wichtig, Deutschkurse und andere Angebote der Aus-, Fort- und Weiterbildung geschlechtsspezifisch und in ausreichender Zahl anzubieten. Es darf keine Situation entstehen, in der Frauen daran gehindert werden, hier Deutsch zu lernen. Außerdem müssen wir gut im Blick behalten, ob Frauen speziell ermutigt und angesprochen werden müssen, damit sie an Deutschlernkursen und Bildungsangeboten teilnehmen. Wir müssen uns, meiner Meinung nach, damit befassen, wie die Angebote zielgruppen- und geschlechtsspezifisch angepasst werden können. Als Beispiel haben wir hier in Charlottenburg-Wilmersdorf alle Netzwerke einbezogen und starten in der kommenden Woche, am 25.01.2016, einen Deutschkurs mit Kinderbetreuung nur für Frauen. Die Anmeldezahlen sagen uns deutlich, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind.
Können Sie die Forderung nach geschlechtsspezifischer Ausgestaltung von Bildungs- und Integrationsangeboten an einem konkreten Beispiel erläutern?
Sehr gern erzähle ich an dieser Stelle das „Fahrradbeispiel“. An ihm zeigt sich besonders schön, wie sowohl das Bildungs- als auch das Freizeitverhalten noch sehr viel stärker nach Geschlechtern segregiert ist, als wir dies hier in Deutschland kennen. So ist es nicht in allen Herkunftsländern selbstverständlich, dass auch Frauen und Mädchen Fahrrad fahren (dürfen). Das kann aber, wenn dies nicht entsprechend mit bedacht wird, zu neuen Problemen führen.
So waren in unserem Beispiel alle Fahrräder, die für eine Flüchtlingsunterkunft gesammelt worden waren, innerhalb kürzester Zeit von jungen Männern in Beschlag genommen. Keiner war auf die Idee gekommen, dass es unter ihnen auch Frauen geben könnte, die gern selbst Fahrrad fahren würden oder dies mal ausprobieren wollten. So mussten wir erstmal sicherstellen, dass auch Frauen und Mädchen Zugang zu den Fahrrädern erhielten und dann, dass wir genug Ehrenamtliche hatten, die mit den Frauen und Mädchen übten. Ähnlich müssen wir bewusst darauf achten, dass sich Frauen und Mädchen an Sport- bzw. Schwimmkursen beteiligen (können). Es gibt noch viel zu lernen im Integrationsprozess, vor allem an geschlechtsspezifischer Sensibilität.
Deshalb finde ich es auch wichtig, dass das Personal im gesamten Bereich der Integration, also von der Ankunft bis hin zu den pädagogischen Angeboten, dahingehend geschult wird, dass auf Verletzungen der Gleichbehandlung der Geschlechter und anderen sexuellen Orientierungen angemessen reagiert wird.
Vielen Dank.
P.S. Mit Stand 07.01.2016 sind in Berlin knapp 43.000 Flüchtlinge untergebracht. Täglich kommen im Schnitt 220 Personen hinzu. Insgesamt sind in Berlin, wie im gesamten Bundesgebiet, deutlich mehr männliche Flüchtlinge angekommen als weibliche.
Bild: privat