Der Mikrozensus weist für 2014 rund 87.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften aus. Der entsprechende Schätzwert geht von deutschlandweit etwa 230.000 aus. Fast die Hälfte davon sind Frauen. [1]
Eine davon ist Anja H. (Name geändert). Die knapp 50-jährige arbeitet in einer Sozialeinrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie lebt seit mehr als zehn Jahren mit ihrer Partnerin zusammen. In den ersten Jahren ihrer Lebensgemeinschaft verbrachten die Kinder ihrer Partnerin jedes zweite Wochenende bei ihnen. Diese hatte sich mit ihrer Exfrau auf ein Pendelmodell geeinigt. Anja H. ist für die Kinder zu einer wichtigen weiteren Bezugsperson geworden. Die Kinder sind inzwischen erwachsen, nun steht die beginnende Pflegebedürftigkeit ihres Vaters im Zentrum der familiären Aufmerksamkeit. Ihre Homosexualität ist im familiären Umfeld akzeptiert und das familiäre Arrangement funktioniert im Großen und Ganzen gut. Im Arbeitsalltag sieht es jedoch anders aus.
Anjas Comingout war für sie schwierig und belastend. Es fiel mit einer beruflichen Umorientierung und der Aufnahme einer neuen Arbeit zusammen. Monatelang hat Anja H. zunächst versucht, sowohl ihre sexuelle Orientierung als auch ihre familiären Verhältnisse vor den Kolleg_innen und Vorgesetzten zu verbergen. Sie befürchtete ablehnende Reaktionen, wollte sich nicht „abchecken“ oder ausfragen lassen. Mit anderen über ihre sexuelle Orientierung zu sprechen, löste unangenehme Gefühle aus. Ihren damaligen Chef schätze sie sehr konservativ ein und befürchtete, dass ihre Homosexualität zum Karrierekiller werden würde. Ihrer Partnerin hatte von anderen berichtet, die auf Grund ihrer Homosexualität per Mail und Facebook belästigt wurden. Manche erhielten Post mit pornografischen Inhalten. Anja H. wollte sich vor all dem schützen. Außerdem war sie selbst stark verunsichert und noch auf der Suche nach sich selbst.
Aus Gesprächen über das Wochenende zog sie sich deshalb zurück. Sie wollte nicht von ihren Aktivitäten oder Erlebnissen erzählen, da sie dann auf ihre Partnerin und ihr familiäres Umfeld Bezug nehmen müsste. An Betriebsfeiern nahm sie nicht teil, insbesondere wenn auch die „Partnerinnen und Partner“ eingeladen waren. Ihre Kolleg_innen empfanden das Verhalten von Anja H. irgendwie seltsam. Sie galt als verschlossen, ungesellig und desinteressiert. Von ihrem Vorgesetzten wurden sie mehrfach aufgefordert, sich mehr ins Team einzubringen. Ihr fiel zunehmend auf, dass sie bei der Vergabe spannender Projektaufgaben übergangen wurde. Die Kolleg_innen ahnten irgendwann, dass sie homosexuell orientiert ist, aber es wurde nicht offen angesprochen und sie äußerte sich auch nicht dazu. Dafür musste sie sich nun immer häufiger von einem Kollegen Schwulenwitze anhören. Sie fühlte sich gleichermaßen erniedrigt und feige. Ihre Arbeitsmotivation und Arbeitsqualität litten unter ihrem wachsenden Frust. Schließlich war die Situation für sie nicht mehr zu ertragen und suchte sich eine neue Stelle.
Nach der letzten Erfahrung beschloss sie, diesmal ganz offen über ihre sexuelle Orientierung und ihre familiären Konstellationen zu sprechen. Das war ihr wichtig, damit sie entspannt mit ihren Kolleg_innen über ihr Wochenende, ihren Urlaub und ihre Alltagserlebnissen austauschen kann. Langfristig hat das schnelle Outing Anja H. in ihrer Arbeitsatmosphäre entspannt. Arbeitsmotivation und Leistung entsprechen wieder ihrem Potential. Inzwischen arbeitet sie seit sieben Jahren in dieser Stelle. Zurzeit nimmt sie an einer Weiterbildung teil, die sie zur Übernahme einer Leitungsfunktion vorbereitet. Unaufgeregte Selbstverständlichkeit ist der Umgang mit ihrer sexuellen Orientierung in ihrem Team allerdings nach wie vor nicht. Normalität im Umgang mit homosexuellen Menschen ist noch lange nicht gegeben, auch wenn viele ihrer Gesprächspartner_innen unterstellen, dass Homosexualität inzwischen längst akzeptiert sei. So hilfreich wie ihr Outing für die Arbeitsatmosphäre auch war, sie stellte bald fest, dass die Aufmerksamkeit für ihre sexuelle Orientierung durchgängig hochblieb, obwohl sie sich eigentlich genau das Gegenteil wünscht. Bis heute bemerkt sie immer wieder, dass sich Frauen von ihr distanzieren, vermutlich um nicht selbst für lesbisch gehalten werden. Ihre Kolleg_innen halten sich auch nach wie vor mit Nachfragen nach ihrer Partnerin oder ihren Kindern eher zurück. Wenn innerfamiliäre Rollenverteilungen karikiert werden, kommt im Team Unsicherheit auf, wenn Anja H. auch dabei ist.
Heute kommuniziert Anja H. im beruflichen Kontext ihre sexuelle Orientierung nicht einfach so und nebenbei, sondern immer bewusst. Gleichzeitig hofft sie damit, die Sichtbarkeit von Menschen mit anderen als hetero-/heterasexuellen Orientierungen zu erhöhen und mehr Selbstverständlichkeit im Umgang zu erreichen. Außerdem liegt ihr sehr daran, anderen auch die Möglichkeit zu geben, Fragen zu stellen und einfach mehr über das Leben homosexueller Menschen zu erfahren. Ihren Klient_innen gegenüber wahrt sie allerdings professionelle Distanz und spricht grundsätzlich nicht über ihr Privatleben.
„Arbeitgeber_innen sollten eine professionelle betriebliche Aufklärung, Kommunikation und Sensibilisierung ermöglichen. Und eine kritische Reflexion von Vorstellungen über Normalität, die Beschäftigte und Führungskräfte gleichermaßen adressiert“, wünscht sich Anja H. für die Zukunft.
[1] Aufgrund geringer Fallzahlen und der Freiwilligkeit der Angaben, sind die Zahlen mit Vorsicht zu interpretieren. Gleichwohl können sie als eine untere Grenze für die Zahl der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften in Deutschland gelten. Schätzungen zufolge könnten es bis zu dreimal so viele sein. (https://www.lsvd.de/recht/lebenspartnerschaft/statistik.html)