Der neue Fortschrittsbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft prüft die Fortschritte, die Deutschland in den letzten Jahren hinsichtlich jener Faktoren, die die negativen Folgen des demografischen Wandels für die Fachkräftesicherung abfedern können. Die Autor/innen der Studie zeigen für die sogenannten Sicherungspfade „Fachkräftezahl“, „pro Kopf geleistete Arbeitszeit“ und „pro Kopf erzielte Produktivität“ die aktuellen Trends auf und leiten entsprechende Handlungsempfehlungen ab.
Hinsichtlich der Zahl der zur Verfügung stehenden Fachkräfte bewerten die Autor_innen die Förderung von Zuwanderung sehr positiv. Die zu verzeichnende positive Netto-Zuwanderungsquote ist besonders geeignet, dem bestehenden Fachkräftemangel kurzfristig zu begegnen. Für die Zukunft fordern die Autor_innen weitere migrationsfördernde Maßnahmen und denken dabei vorrangig etwa an die Etablierung einer positiven Willkommenskultur oder die verstärkte Anwerbung von Fachkräften aus Ländern mit Bevölkerungswachstum.
Insgesamt wenig erfolgreich schätzen die Autor_innen die Bemühungen zur Steigerung der Geburtenrate ein. Sie machen hierfür vor allem die fehlenden Möglichkeiten, Beruf/Karriere und Familie vereinbaren zu können, verantwortlich. Die Mängel in der Vereinbarkeit von Beruf/Karriere und Familie wiederum bringen sie vor allem mit dem Fehlen einer bedarfsgerechten, Vollzeiterwerbstätigkeit abdeckenden institutionellen Kinderbetreuung in Verbindung. Dementsprechend fordern sie vor allem den flächendeckenden Ausbau der Betreuungsangebote, die Vollzeittätigkeit einschließlich Wegezeiten abdecken können. Gedacht sind also institutionelle Betreuungsarrangements von bis zu zehn Stunden täglich. Ebenso fordern die Autor_innen der Studie die Rückführung/Abschaffung aller familien- und sozialpolitischen Leistungen, die Frauen/Mütter vom Arbeitsmarkt fernhalten. Konkret fordern sie etwa die Abschaffung des Betreuungsgelds und des Ehegattensplittings, das die Zweiterwerbstätigkeit für Mütter generell unattraktiv macht.
Gänzlich unberücksichtigt in der Analyse bleiben allerdings die zahlreichen anderen strukturellen und kulturellen Faktoren, die auf die Entscheidung für oder gegen Kinder einwirken.
Hinsichtlich der geleisteten Arbeitszeit verzeichnen die Autor_innen positive Entwicklungen. Sie bewerten insbesondere die Maßnahmen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit sowie zur Flexibilisierung des Renteneintrittalters nach hinten als besonders vielversprechend, ebenso die Reduktion der Teilzeitquoten. Dadurch könne dem Arbeitsmarkt brachliegendes Arbeitszeitpotential erschlossen und zur Verfügung gestellt werden. Idealbild der pro Kopf zu leistenden Arbeitszeit ist für die Autor_innen eine flächendeckende Realisierung eines 40 Wochenstunden-Arbeitszeitmodells. Sie stellt nach Einschätzung der Autor/innen die bestmöglichste Arbeitszeitleistung im Sinne der Fachkräftesicherung dar.
Allerdings wäre eben gerade diese Prämisse mit Blick auf die zuvor beklagte mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie kritisch zu reflektieren. Es ist an vielen anderen Stellen überzeugend dargestellt worden, dass Arbeitszeitmodelle von 30- bis 35 Wochenarbeitsstunden nachgerade dazu geschaffen sind, eine Reihe der bestehenden Zeitkonflikte zu entschärfen. Darüber hinaus ist die insgesamt verringerte Wochenarbeitszeit Wunschmodell eines Großteils der Mütter sowie einer wachsenden Zahl der Väter. Hier zeigt sich die Herausforderung, die sich für Politik und Wirtschaft bei der Justierung ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik stellt, besonders deutlich. Die Erhöhung der pro Kopf geleisteten Wochenarbeitszeit vermag in der Tat dazu beitragen, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Gleichzeitig aber verschärft sie die bestehenden Vereinbarkeitskonflikte weiter. Auch wenn Betreuung so gestaltet werden sollte, dass sie Vollzeiterwerbstätigkeit abdecken kann, wird dies dem Wunsch nach geteilter Familienzeit eben gerade wieder nicht gerecht.
Hinsichtlich des dritten Sicherungspfads „Steigerung der Pro-Kopf-Produktivität“ kommen die Autor_innen wieder zu sehr positiven Einschätzungen. Hier sehen die Autor_innen einen starken Zusammenhang zwischen Bildungs-/Qualifizierungsstand und Produktivität. Je höher die Bildung, desto höher die zu erwartende Produktivität. Besonders positiv beurteilen die Autor_innen die in Deutschland rückläufige Bildungsarmut und –ungleichheit. Die Autor_innen fordern weitere Erleichterungen bei der frühkindlichen Förderung, beim Berufseinstieg und der Studienaufnahme. Sie ermutigen alle Beteiligten, weiter daran zu arbeiten, bildungsferne und Kinder von Migrant_innen zu erreichen und zu fördern, Bildungsabschlüsse schneller und unbürokratischer anzuerkennen. Verbunden mit dem Ziel, die Lebensarbeitszeit auszudehnen fordern die Autor_innen darüber hinaus stärkere Investitionen in eine altersgerechte Personalentwicklung und in lebenslanges Lernen.
In Summe gäbe es also bereits sehr gute Ansätze, dem bestehenden Fachkräftemangel entgegen zu wirken. Allerdings sei noch besonders darauf zu achten und die Anstrengungen verstärkt auf die sogenannten Engpassberufe, wie Gesundheitsberufe und MINT-Berufe zu fokussieren.
Christina Anger, u.a. (2014): Demografischer Wandel und Fachkräftesicherung. Ein Fortschrittsbericht. Köln (=Forschungsberichte aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Nr. 94.)