Das neue Buch von Cordula Endter und Sabine Kinietz birgt vielfältige neue Einsichten zum Alter(n), das sie als soziale und kulturelle Praxis vorstellen. Aus kulturwissenschaftlicher und ethnologischer Sicht nähern sich die Autor*innen dem Thema und ermöglichen den Leser*innen einen Blickwechsel. Wie wird man eigentlich alt? Wie verändern sich biografische Erfahrungen und Erinnerungen? Die Beiträge des Buches bringen den Leser*innen kulturelle Vorstellungen, alltagsweltliche Aushandlungen und materielle Erscheinungsformen des Altern(s) näher. So geht das Buch weit über Aspekte des bloßen Älterwerdens oder des Erreichens des Rentenalters als biografischer Einschnitt am Übergang zur letzten Lebensphase hinaus.
Unter dem Punkt Ordnungen befassen sich Irene Götz und andere etwa mit Armut als gesellschaftlicher Kategorie und rücken den Befund der ungleich stärkeren Gefährdung von Frauen durch Altersarmut in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Sie kontextualisieren sie und erklären sie aus einem für die Frauen denkbar ungünstigen Zusammenwirken von demographischen Faktoren, Rollenbildern und politischen Entscheidungen. Die Autor*innen zeichnen in dichter Beschreibung nach, wie sich diese Rahmenbedingungen im Einzelfall auswirken und stellen Erwerbsbiografien und Prekarisierungserfahrungen alleinstehender Frauen im Rentenalter vor. Sehr anschaulich zeigen die Autorinnen die Herausforderungen, die durch die materielle Einschränkung der Frauen im Alter entstehen, aber auch welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln bzw. welche externen Unterstützungsansgebote sie nutzen. Familiärer Zusammenhalt, Freundschaften oder religiöse Orientierungen gelten den Autor*innen als wesentliche Ressourcen für die Bewältigung entstehender Problemlagen.
Unter dem Stichwort Beziehungen verdeutlichen die Autor*innen, dass Alter(n) letztlich nur im Zusammenwirken der in Beziehung stehenden Akteure zu verstehen ist. Dies zeigt sehr schön der Beitrag „When Anna moved to a Nursing Home“ der dänischen Autorin Kamilla Nørtoft. Sie erläutert die Entscheidung einer hochaltrigen Dame, ihr Zuhause zu verlassen und in ein Heim zu ziehen, aus der Interaktion aller beteiligter Personen, ihrer jeweils unterschiedlichen Deutungsansätze zum Alter, ihrer familiären Rollen und ihres Beziehungsverhaltens.
Unter dem dritten Oberthema Materialitäten fragen die Autor*innen, wie sich Altern(n) in Gegenständen manifestiert und untersuchen Objekte als integrale Bestandteile von doing age-Prozessen und Praktiken. So werden Objekte untersucht, die helfen, den Alltag zu Hause weiterhin selbstständig und selbstbestimmt bewältigen zu können oder Alltagsgegenstände, die ältere und alte Menschen unterstützen, sich in der Umgebung eines Pflegeheims wohlzufühlen und eventuell das Gefühl für ein neues Zuhause zu entwickeln. Die Beiträge handeln von Handtaschen, mehrfach verloren und wieder ersetzt, aber auch von Feuerzeugen, mit denen eine Pflegerin ihren Klient*innen die unverzichtbare Routine einer Raucherpause ermöglicht.
Das Buch ist eine Leseempfehlung für alle, die sich als Diversitybeauftragte und -fördernde für die Kategorie Alter interessieren sowie grundsätzlich für alle, die sich auf eher ungewohnte Zugänge zum Thema Alter(n) einlassen wollen, die neugierig auf die Analyse kultureller Vorstellungen, alltagsweltlicher Aushandlungsprozesse sowie materieller Erscheinungsformen sind und die naturgemäße Heterogenität und Interdisziplinarität eines Tagungsbandes nicht scheuen.
Cordula Endter, Sabine Kienitz (Hg.) (2017): Alter(n) als soziale und kulturelle Praxis. Ordnungen – Beziehungen – Materialitäten, transcipt-Verlag Bielefeld.