Seit Monaten schon arbeitet die türkische Regierung auf eine Retraditionalisierung von Geschlechterrollen und Sexualverhalten über gesetzliche Regelungen und über die Absegnung religiöser Rechtsgutachten hin. [1]
Erst vor wenigen Wochen hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan Geburtenkontrolle und Verhütung zu „Landesverrat“ erklärt. Abtreibungen wurden unter seiner Regierung mehrfach erschwert. Am 04.01.2016 hat nun das türkische Amt für religiöse Angelegenheiten mit ausdrücklicher Billigung des Ministerpräsidenten eine weitere Fatwa, also ein religiöses Rechtsgutachten, zum Verhalten verlobter Paare vor der Ehe veröffentlicht, das erneut in das Sexualverhalten und die Geschlechterbeziehung eingreift. [2]
Es fordert Verlobte dazu auf, sich in der Öffentlichkeit züchtig und sittsam zu verhalten. Sie sollen weder Händchenhalten, flirten oder „anderes Benehmen“ an den Tag legen, das nicht vom Islam gebilligt wird. Auch dürfen sich die Verlobten nur treffen, wenn eine andere Person in einem Raum anwesend ist. So sei nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Verlobte treffen, um sich besser kennenzulernen. Die Grenzen der Intimität aber dürfen nicht überschritten, die Eltern und sie selbst nicht ins Gerede kommen. Jede Form vorehelicher Sexualität ist zu unterlassen.
Das Amt für Religiöse Angelegenheiten ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt und gilt als die höchste islamische Autorität der Türkei. Die Moscheen des Landes und die dort tätigen Geistlichen sind Staatsbeamte und damit weisungsgebunden. Ihr Auftrag ist es, den Fatwas zur Umsetzung zu verhelfen und bei Anfragen der Gläubigen entsprechend im Sinne der Rechtsgutachten zu beraten. Damit entfalten die Fatwas großen Einfluss, auch wenn sie im strengen Sinn kein geltendes Recht sind. Doch beschränkt sich der Einfluss nicht allein auf die Türkei.
In Deutschland unterhält die Behörde eine eigene Niederlassung, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), der laut eigenen Angaben bundesweit rund 900 Moscheegemeinden angeschlossen sind. Umfragen zufolge vertritt die DITIB über 70% der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime. [3] So entfaltet die Fatwa über die Imame, die in der Regel aus der Türkei entsandt werden und türkische Staatsbeamte sind, auch in Deutschland ihren Einfluss.
Obwohl über die Moscheen religiöse Rechtsgutachten vertreten werden, die in ihren Inhalten den Grundprinzipien der sexuellen Selbstbestimmung, den seit der UN-Frauenkonferenz von Peking verbrieften reproduktiven Rechten sowie der Gleichberechtigung von Männer und Frauen widersprechen, ist hierzu keine weitere politische Auseinandersetzung, keine Kritik oder kein Protest öffentlich geworden. Das verwundert.
Zwar gilt, dass die Fatwas etwa bei den jungen Männern und Frauen in den türkischen Großstädten auf wenig Zustimmung stoßen und diese ein selbstbestimmtes Leben, frei von religiösen Vorschriften, führen wollen. Gleichwohl ist die Retraditionalisierung des Geschlechter- und Liebeslebens in der Türkei nicht zu übersehen. [4] Problematisch ist, dass diese Fatwa nicht nur einem religiösen, sondern dem traditionellen Rollenbild einer „Ehrenkultur“ in die Hände spielt und dazu beitragen kann, dass gerade wieder Frauen kontrolliert und bei Verstößen abgestraft werden.
Zum Einfluss, den die Fatwa auf das Liebesleben von Migrant_innen aus der Türkei in Deutschland entfaltet, konnten wir keine genauen Angaben finden, auch nicht wie viele der jungen Männer und Frauen der Fatwa zustimmen. Eine kritische Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit im Sinne der Integration von Werten wäre aus unserer Sicht aber trotzdem dringend angebracht.
[1] http://www.heute.at/news/welt/art23661,1247639
[2] (http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-fatwa-verbietet-flirten-und-haendchenhalten-a-1070458.html)
[3] http://www.ditib.de/default1.php?id=5&sid=8&lang=de
[4] http://detektor.fm/gesellschaft/fatwa-fuer-verlobte